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Rabenblut - Einen Flügelschlag entfernt (Rabenblut Serie 1) (German Edition) Read online

Page 2


  Die Vorhänge an den Fenstern standen einen Spalt offen, aber der Nebel hing so tief, dass das Mondlicht nur träge auf mein Bett fiel.

  Ich stellte mir all die nachtaktiven Tiere vor, die jetzt durch das Unterholz streiften: Gleich, noch vor Tagesanbruch, würden sie zurück zu ihren Schlafplätzen huschen – in Höhlen, Felsspalten oder unter riesige Wurzelteller.

  Der nachtdunkle Wald gruselte mich nicht, sondern übte eine eigenartig beruhigende Wirkung auf mich aus. In diesem Wald gab es keine Gefahren oder Tiere, die erschreckend waren. Keine Schäden, keine Katastrophen. Alles hatte seine eigene Ordnung und Naturgesetze. Selbst Stürme wie Kyrill hatten dem Nationalpark nicht schaden können. Es war eine natürliche Zerstörung, die Raum für neues Leben bot, denn die Natur besaß einen anderen Blickwinkel als wir Menschen, keinen ökonomischen.

  Musste ich mitten in der Nacht über solche Dinge nachgrübeln? Schlafen sollst du!, schalt ich mich. Aber als Befehl zeigte es leider auch keine Wirkung. Und gerade als der Gedanke daran, im Parka vor dem Laptop zu sitzen, für mich an Attraktivität gewann, hörte ich einen peitschenden Knall.

  Erschrocken riss ich mir die Decke vom Kopf und horchte.

  Stille.

  Sekundenlang hielt ich den Atem an.

  Wirklich absolute Stille. Leise sog ich wieder Luft in meine Lungen. Ich fragte mich, aus welcher Richtung der Schuss wohl gekommen sein könnte. Denn dass es ein Schuss gewesen war, daran bestand kein Zweifel. Dieser harte, nachhallende Knall konnte unmöglich etwas anderes bedeuten.

  Den Gedanken, Marek deswegen zu benachrichtigen, verwarf ich aber schnell. Das war wohl kaum ein Grund, ihn aus dem Bett zu reißen. Was, wenn es sich doch nur um die Fehlzündung einer alten Rostlaube gehandelt hat?

  War der Knall überhaupt so furchtbar laut gewesen? Ich hatte schließlich wach gelegen und auf jedes kleinste Geräusch gelauscht. Sicher wäre ich niemals davon aufgewacht.

  An Schlaf war jetzt natürlich gar nicht mehr zu denken. Also schob ich die Decke endgültig von mir und tappte ins Bad. Doch kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, klingelte das Telefon.

  »Isa?« Mareks Stimme hörte sich ziemlich verschlafen an. »Tut mir leid, dass ich dich so früh anrufe …«

  »Ich war schon wach«, unterbrach ich ihn. »Hast du den Knall auch gehört?«

  »Knall?« Er wirkte irritiert. »Nein. Ich wurde gerade angerufen. Ein Jungtier aus einer Schafherde wurde gerissen und irgendjemand hat den wildernden Hund angeschossen. Vielleicht hast du den Schuss gehört.«

  »Soll ich mitkommen?«

  »Deshalb rufe ich an. Lara kann ich jetzt unmöglich wecken. Sie würde mir den Tag zur Hölle machen!«

  »Ist gut. Ich komme mit dem Rad rüber.«

  »Nein, lass das Rad! Wir nehmen den Suzuki. Bestimmt müssen wir das Tier mitnehmen und zum Tierarzt bringen.« Er atmete laut in den Hörer. »In drei Minuten bin ich bei dir.«

  Ich legte auf und verkürzte das Zähneputzen auf dreißig Sekunden, bevor ich mich aus meiner Jogginghose quälte und in die eiskalte Jeans stieg.

  Ganzkörpergänsehaut.

  Ich schnürte gerade meine Stiefel, als ich den Motor von Mareks Auto hörte, schnappte meinen Parka und knallte die Tür hinter mir zu.

  Ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen.

  »Guten Morgen.« Er lächelte entschuldigend.

  »Dreh bloß die Heizung auf!«, gab ich zurück und klemmte meine Hände zwischen die Oberschenkel.

  »Gut geschlafen?«, fragte er, dabei sah er selbst so aus, als wäre sein schütteres Haupthaar in der Nacht explodiert.

  »Wann kommt der Heizungsinstallateur?«, fragte ich anstelle einer Antwort. Eine kleine Provokation zum Wachwerden konnte schließlich nicht schaden.

  Marek schürzte die Lippen und bog auf einen breiten Schotterweg ab.

  »Ich werde mich heute darum kümmern. Versprochen!«

  Ich nickte. »Wer hat dich angerufen?«

  »Irgendein Bauer aus der Umgebung, ich hab den Namen nicht verstanden. Weit ist es nicht«, erklärte er, »etwa achthundert Meter von der Straße entfernt. Ein Wanderhirte hat seine Herde dort geparkt. Der Bauer war stinksauer. Angeblich hatte er die Weide mit einem Strohbündel markiert, damit keine fremden Tiere darauf weiden. Er hat sich total darüber aufgeregt, dass der Schäfer die Markierung missachtet hat.«

  »Also ist es einer seiner Hunde?«

  »Keine Ahnung. Jedenfalls habe ich keine Lust, mich mitten in der Nacht als Streitschlichter zu betätigen.« Er presste die Lippen aufeinander.

  Es war immer noch stockduster, und die Scheinwerfer des Geländewagens warfen nur einen bescheidenen Lichtkegel voraus. Marek verlangsamte das Tempo, als die Straße in einen Feldweg überging. Langsam strahlte die Heizung Wärme aus, und ich streckte meine Finger der Lüftung entgegen. Vor uns leuchtete etwas Rotes auf: ein ziemlich dreckiger Ford Escort.

  »Wir sind da.« Er lenkte den Wagen direkt hinter das rote Auto, ging zur Rückseite und öffnete den Kofferraum. Ich lauschte in die Dunkelheit, hörte aber nur das ruhige Schnaufen der Schafherde.

  »Hier.« Er hielt mir eine Taschenlampe hin.

  »Und wohin jetzt? Sollen wir die ganze Weide absuchen?«, fragte ich.

  Marek seufzte, öffnete erneut die Wagentür und beugte sich nach innen. Ein lautes Hupen ließ mich zusammenfahren, und ich warf meinem Arbeitgeber einen vorwurfsvollen Blick zu. Aus der Herde antwortete uns ein unsicheres Blöken. Es folgte der Ruf einer rauen Stimme.

  Das Licht einer Campinglaterne flackerte auf, und ein völlig verwahrloster Typ kam uns entgegen: unrasiert und mit dreckverkrusteter Kleidung. Er hielt eine Laterne hoch und begrüßte uns mit einem tschechischen Wortschwall. Marek antwortete in eindeutig fragendem Tonfall. Ich schämte mich, mich bisher so wenig mit dieser Sprache befasst zu haben, und gelobte insgeheim Besserung. Die beiden schienen über irgendetwas zu diskutieren. Der Schäfer führte uns quer über die Wiese bis zum Wald, und ich wunderte mich, wieso wir uns so weit von der Herde entfernen mussten.

  Zwischen den Bäumen drangen abscheulich klingende Schmerzenslaute hervor. Sie schienen weder menschlicher noch tierischer Art zu sein. War der Hund so schwer verletzt? Warum hatte ihn der Schäfer dann nicht längst erlöst?

  Wieder ein rauer, abgehackter Satz des Schäfers. Er unterstrich seine Worte, indem er auf eine Stelle vor uns deutete. Marek hielt den Strahl der Taschenlampe in die angegebene Richtung, und mir blieb mein nächster Atemzug im Halse stecken.

  »Ein Wolf!«, entfuhr es mir. Anscheinend kannte der Schäfer dieses Wort sogar auf Deutsch, denn er nickte heftig.

  Marek trat über das Blattwerk hinweg und leuchtete dem Wolf direkt in die Augen. Leblose, bernsteinfarbene Augen – wie furchtbar! Das Tier war tot. Ich bemerkte einen mittelgroßen Hund, der halb unter dem Wolf begraben lag. Marek schien ihn genau im selben Moment gesehen zu haben, denn er feuerte weitere Fragen ab. Es sah aus, als hätten die beiden miteinander gekämpft, bevor der Schuss abgegeben worden war.

  Wo war nur dieser verfluchte Bauer, der Marek angerufen hatte? Und was hatten diese qualvollen Geräusche zu bedeuten?

  Wenn beide Tiere tot waren – und daran bestand kein Zweifel –, konnte ich mir nicht erklären, woher die Laute kamen. Im schwachen Lichtstrahl meiner Lampe umkreiste ich die Tiere. Da hörte ich es wieder: ein Stöhnen, ein bitteres, leidvolles Stöhnen, als ob sich jemand schmerzvoll wand. Suchend ließ ich den Lichtstrahl weiterwandern und sah etwas Weißes aufblitzen.

  »Oh Gott!«

  »Was ist?«, rief Marek alarmiert. Sein Lichtkegel suchte den meinen, und ich ließ meine Hand schockiert sinken.

  Dort war ein Mann.

  Er war nackt, hockte in seltsam gekrümmter Haltung auf dem Waldboden und war unverkennbar schwer verletzt.

  War das der Bauer, der Marek angerufen hatte? Oder irgendein Gehilfe des Schäfers, der gerade wild gestikulierte? Aber wo waren seine Kleider?

  Hilflos sah ich mich nach Marek um. Ein wilder Fluch von ihm, und er war mit wenigen Schritten bei dem Verletzten. Aber als Marek eine Hand nach ihm ausstrecken und ihn an der Schulter berühren wollte, wich dieser vor ihm zurück. Ein grollendes Geräusch brach aus ihm heraus, und er hob abwehrend eine Hand.

  Der Schein meiner Lampe berührte kurz die Stelle, an der ich das Gesicht des Mannes vermutete, doch ich sah nur einen Wust verklebter Haare.

  »Hol die Wolldecke aus dem Auto!«, befahl eine Stimme. »Schnell!«

  Ich stolperte zurück in Richtung Auto. Wolldecke. Logisch. Der Mensch stand unter Schock und musste fürchterlich frieren.

  Mit der Decke im Arm eilte ich zurück. Marek machte keine Anstalten, sie mir abzunehmen, also legte ich sie dem Mann um die gekrümmten Schultern. Da sah ich plötzlich zwei Dinge, die mich erschrocken aufkeuchen ließen:

  Eine riesige Fleischwunde entstellte den Arm des Mannes und offenbarte eine blutende, ausgefranste Masse, wie ich sie sonst nur bei gerissenem Wild zu sehen bekam. Und ich sah, dass der Verletzte etwas in seinen Händen hielt. Einen Vogel! Der Kopf des Tieres baumelte in unnatürlicher Haltung herab. Mir wurde erst heiß und dann kalt.

  Marek redete auf den Mann ein, dessen Gesicht durch Haare und Bart beinahe vollständig verdeckt wurde, bekam aber keine Antwort. Der Verletzte ließ nur ein kehliges Geräusch hören, und ich erkannte, dass es ein unterdrücktes Schluchzen war. Jetzt wurde mir auch das Seltsame an dieser Situation bewusst: Nicht der tote Wolf hatte mich so schockiert oder die Nacktheit dieses Mannes. Es war das Entsetzen darüber, dass der Verletzte gar keine körperlichen Schmerzen zu spüren schien. Dass es nicht die Verwundung war, die ihn peinigte, sondern der Schmerz um das tote Tier, das er so fürsorglich auf seine Knie gebettet hatte.

  »Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus bringen«, erklärte Marek. »Bis wir dem Rettungswagen die Wegbeschreibung verständlich rübergebracht haben, ist der Mann verblutet. Aber wie kriegen wir ihn nur dazu,
das Vieh loszulassen?« Der Mann machte bei diesen Worten eine so ruckartige Bewegung der Abwehr, dass ich beinahe sicher war, er hatte Marek genau verstanden.

  »Wir nehmen den Vogel mit«, flüsterte ich und streckte dem Fremden beide Handflächen entgegen. Der Mann hob den Kopf und richtete seine Augen das erste Mal auf mich. Ich schickte ein beruhigendes Lächeln in seine Richtung.

  Hoffentlich war das kein Psychopath!

  Der Typ konnte unmöglich bei klarem Verstand sein. Er sah aus wie ein Eremit – ein Einsiedler, der allein im Wald hauste. Fast erinnerte mich sein Anblick an eine kindliche Vorstellung des heiligen Franziskus: schmutzig, ausgemergelt und von Tieren umgeben.

  Nur dass diese Tiere hier alle tot waren.

  Nach einigem Zögern legte er den schwarzen Vogel behutsam in meine Hände.

  Marek half dem Mann auf, und gemeinsam mit dem Schäfer schleppte er ihn zum Auto. Ich legte das Tier auf der Rückbank ab, drehte schnell am Knauf des Vordersitzes, damit sie den Mann in eine liegende Position bringen konnten, und quetschte mich dann dahinter. Marek rannte um den Wagen herum zum Fahrersitz und startete den Motor. Der Verletzte hatte die Augen geschlossen und die Lippen fest aufeinandergepresst. Seine blasse Schulter ragte aus der Wolldecke heraus wie ein Eisberg.

  BLUTQUAL

  ALEXEJ

  Alles war mir fremd. Das grelle, künstliche Licht, die unnatürliche Wärme der starren Luft, diese seltsame Stille. Eine Welt, die nicht raschelte, rauschte oder knisterte, als wäre ich begraben unter einer dicken Schneedecke. Der Schwarm war fort, und eine unendliche Schwere lähmte mich.

  Ich versuchte, meinen Schnabel zu öffnen, um ein »Kroak« auszustoßen, aber meine Kehle war ausgedörrt. Ich schob meine Zunge hervor. Diese Berührung erschütterte mich. Spröde, aufgerissene Lippen anstelle eines harten, spitzen Schnabels. Die Erinnerungen prasselten wie Eisregen auf mich ein:

  Pavel war tot. Sofort setzte der körperliche Schmerz ein, der bisher in Dumpfheit ausgeharrt hatte.

  »Ich glaube, er wacht auf«, sagte eine Frauenstimme.

  »Keine Sorge, ich spritze ihm noch Metamizol in die Infusion, sonst springt er mir gleich hier runter.« Eine Männerstimme – dunkel, rauchig.

  Ich roch etwas Scharfes, das ich nicht kannte, und den Geruch, der mir selbst anhaftete: Erde, Laub und Schweiß. Aber da war noch ein süßes, metallisches Aroma. Eines, das so intensiv war, dass ich es sogar auf meiner Zunge schmecken konnte: Blut. Mein eigenes Blut.

  Mein linker Arm brannte und pulsierte heftig. Durch die dünne Haut meiner Augenlider leuchtete eine hellorange Lichtquelle. Ich drehte mein Gesicht davon weg und fühlte die Kühle eines Kissens an meiner Wange. Wohin hatte man mich gebracht? Und wo waren meine Gefährten? Wo war Pavel?

  »Und er ist einer Ihrer Mitarbeiter?« Wieder diese rauchige Stimme.

  »Nein, ich habe keine Ahnung, wer der Mann ist. Ich wurde wegen eines Tierrisses gerufen«, sagte ein anderer, der schnell und in nervösem Tonfall sprach. Er erzählte, wie sie mich gefunden hatten, und von einem toten Kolkraben in meinen Armen. Das war nur schwer zu ertragen, und ich wand mich auf meiner Liege.

  Ich wollte das nicht hören.

  Was sie dachten, interessierte mich nicht. Erst recht wollte ich mir keine Beschreibungen anhören. Nicht von dem toten Staubgrauen. Von den Bluthunden. Von vergossenem Rabenblut. Ein Ächzen entrang sich der Enge meines Brustkorbs.

  »Kann man ihm nicht mehr von diesem Schmerzmittel geben?«, fragte die Frauenstimme.

  »Er hat bereits die Maximaldosis erhalten. Wir wollen ja nicht, dass sein Kreislauf kollabiert. Ich injiziere ihm jetzt erst einmal ein Tetanus-Toxoid.«

  Raschelnd wurde die Decke, die mich wärmte, zur Seite gezogen. Etwas Feuchtes benetzte meine Haut, und dann spürte ich einen Stich direkt in den Muskel meines Oberarms. Es kostete mich unheimliche Überwindung, nicht zurückzuweichen – diese Scheu zu überwinden, die mein Leben als Rabe begleitete. Scheu vor den Menschen, die uns beinahe ausgerottet hatten, die uns mit Strychnin vergifteten, für lächerliche Fangprämien erschossen, unsere Eier raubten und unsere Brut zerstörten.

  Welche Erleichterung, als die Hände von mir abließen und sich die warme Decke, einer schützenden Eihülle gleich, um meinen Körper legte. Hätte es doch in meiner Macht gestanden, die letzten Stunden ungeschehen zu machen, ich hätte mehr als nur meinen Arm dafür gegeben. Trauer überrollte mich. Eine Trauer, die mehr schmerzte als das Pochen in meinen Gliedern.

  Der Schatten einer Hand schwebte über meinem Gesicht und wischte mit einem weichen Tuch meine Tränen fort. Was ich dann tat, war ein Reflex, mehr nicht: Ich riss meinen rechten Arm hoch und schlug diese Hand beiseite. »Nicht!«

  War das meine Stimme?

  Ich sah in erschrockene Augen, die Farbe mehr braun als grün.

  Übelkeit überkam mich. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich rollte mich auf die Seite und erbrach das Letzte an Aas, das ich zu mir genommen hatte.

  Jemand fluchte. Hände fassten erst nach meinem Handgelenk, dann an die Kuhle neben meinem Kehlkopf.

  »Fadenförmiger Puls«, sagte die Rauchstimme. »Und er hat hohes Fieber. Ungewöhnlich, dass sich jetzt schon Entzündungszeichen bemerkbar machen.« Eine kurze Pause. »Ich werde einen Kollegen hinzurufen.«

  Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war wieder der Geruch nach Blut. Um mich herum helle Farben: Zitronengelb an den Wänden, weiße Bettwäsche, grelles Licht, das von der Decke zu mir herunterbrannte, und ein hellgrauer Linoleumboden. Das alles sah ich nur durch einen schmalen Lidspalt. Neben meinem Bett hing ein Beutel mit dunkelrotem Inhalt. Ich gab der Schwere meiner Augen nach und schloss sie. Wieder fassten Hände nach mir, aber ich wehrte mich nicht mehr. Etwas berührte meinen gesunden Arm und tröpfelte langsam, wie aus einem porösen Wasserhahn, in mich hinein.

  Doch schon kurz darauf zog sich mein Hals zusammen. Schweiß lief mir über die Stirn bis in die Augen. Meine Glieder prickelten wie von feinen Nadeln gespickt. Das Atmen fiel mir schwer. Ich keuchte. Diese Enge war unerträglich, als zerquetschte ein Fels mir den Brustkorb.

  »Doktor Pražák!« Diese Frauenstimme erkannte ich wieder.

  »Doktor!« Jetzt rief sie lauter, beinahe schrill. »Ich glaube, er bekommt keine Luft mehr!«

  Hastige Schritte.

  Ich schüttelte mich wie ein nasser Hund. Mein Herz wummerte, wurde langsamer, stolperte und galoppierte wieder davon. Schwach, so schwach. Es hatte keine Kraft, mein Blut weiter durch meinen Körper zu pumpen.

  Jemand presste etwas Kaltes auf meine Brust. »Ich glaube, er hat einen Schock!«

  Wieder Schritte. »Stellen Sie sofort die Transfusion ab, Doktor Pražák!« Papiere raschelten. »Der Patient hat die Blutgruppe AB negativ?«

  »Ja, Professor Syrový. Ich kann mir das nicht erklären! Der Bedside-Test zeigte eine Agglutination bei Anti-A und Anti-B.«

  Die Stimmen verschwammen.

  »… Spritze … Cortison … Theophyllin …«

  Das Gewicht auf meiner Brust nahm zu, und dann waren meine Glieder auf einmal leicht und schwerelos, als trüge mich eine Strömung aufwärts.

  »Wo bleibt das EKG?«, brüllte jemand in den Raum.

  Luftwellen streichelten meine Schwingen, und ich glitt in einen warmen See aus Milch.

  »Blutdruck ist nicht mehr messbar!«

  GRABAUGEN

  ISABEAU

  Meine rechte Hand zitterte unkontrolliert, und schwarze Brühe schwappte über meinen Tassenrand.

  »Du magst doch gar keinen Kaffee«, stellte Lara fest.

  »Ich dachte, etwas Koffein könnte nicht schaden.«

  Lara lachte, nahm mir die Tasse ab und schüttete den Inhalt in den Ausguss. Mit den Fingern strich sie sich das lange blonde Haar aus dem Gesicht und brachte dabei ihre Ohrringe zum Klirren.

  »Ich mach dir einen Kakao, Süße. Was hältst du davon?«

  Ich lächelte dankbar, war aber mit den Gedanken ganz woanders. »Wo bleibt Marek nur so lange?«

  »Er wird sicher gleich hier sein. Er wollte unbedingt dabei sein, wenn der Tierarzt die Kadaver untersucht. Wir müssen wissen, ob die Hunde tollwütig waren.«

  Unwillkürlich trommelte ich mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte und probierte mehrere Rhythmen aus. Lara stellte eine dampfende Tasse auf den Tisch. Vorsichtig nippte ich daran, aber selbst dieser süße Genuss konnte mich nicht über das hinwegtrösten, was in den vergangenen Stunden passiert war.